Eine kurze Einleitung über Sandkörner und Wüsten

 

„Die Wüste wächst[!]“ Das gilt auch für die einst so fruchtige und üppige Landschaft der Lyrik. „[W]eh dem, der Wüsten birgt [!]“ (Nietzsche, KSA 6, S. 382). So mahnte einst der Philosoph mit dem Hammer. Wie in unserem gesamten Leben so auch in jenem Teil der poetischen Kunst, welcher zahlreiche Formen und Gedanken hervorbrachte, breitet sich die Wüste aus. Nur noch selten lassen sich kleine, dem Verdorren nahe, aber immer noch einzigartige Gewächse finden. Sie aber sind umgeben von immer gleichen Sandkörnern, die sich allzu gerne neidisch zu einem Sturm erheben und den letzten Lebenssaft jener stolzen Gewächse rauben wollen.

Ich blicke zu Beginn dieses Aufsatzes auf zwei Sandkörner der heutigen Lyrik, die immer mehr in sozialen, aber auch in den üblichen Printmedien zu finden sind. Aus ihnen ergeben sich zwei schwerwiegendes Probleme: Einerseits setzt sich ein Irrglaube fort. Ein lyrischer Text brauche nicht viel Arbeit, denn es genügen ein paar leere Weiten um den eigentlichen Text herum. Wenn sich das Ganze sogar noch reimt, könne es sich nur um ein Gedicht handeln. Andererseits vermeinen immer mehr, dass Lyrik nicht verstanden werden müsse. Sie müsse dagegen hauptsächlich höchst poetisch klingen.

Dies sind nur die Probleme, welche sich rein aus Gesichtspunkten der Lyrik ergeben. Noch viel schwerer wiegt der Umstand, immer weniger auf eine korrekte Sprache achtgeben zu müssen. Nicht auf sie zu achten, gilt seit langem schon als Zeichen künstlerischer Freiheit. Vielleicht mag das für eine Handvoll Texte richtig sein. In den meisten Fällen geht aber das Abweichen von der Sprache nicht mit dem Inhalt einher, sodass ehrlicherweise der Verweis auf die künstlerische Freiheit nur als plumpe Ausrede gelten kann.

Die heutigen Sandkörner suggerieren, es gebe weder Platz für altbekannte Formen der Lyrik noch für neue. Ich zeige jedoch auf, dass es selbst heute noch möglich ist, neue lyrische Formen zu entwickeln, wenn man gewillt ist, darüber nachzudenken, was die beste lyrische Form für bestimmte zu verdichtende Inhalte ist. Dazu gebe ich entsprechend gleich ein Beispiel und verweise ein wenig darauf, wie ich an das Schreiben eines lyrischen Textes herangehe.

 

 

 

Über zwei Extreme der alltäglichen Lyrik

 

 

Es gibt im Wesentlichen zwei Extreme in der modernen Lyrik, diese sich nicht nur in Foren oder sozialen Netzwerken zeigen, sondern in Anthologien oder ganzen Monographien zu lesen sind. Ich gebe im Folgenden zwei Beispiele dafür, die aus eigener Hand stammen. Wer weitere Beispiele lesen möchte, den verweise ich auf besagte Fundorte solcherlei Texte.

 

 

Extrem 1:

 

 

deine Augen

 

 

wenn iCh in deine Augen verträumd seh,

dan freu ich mich während ich gesteh,

dass du alles für mich bistt

Und alles andre auff der WElt für mich egal ist.

Ich wünsche mir du bleibst bei mir bis in alle ewigkeiten,

wo wier schweigen

allen zeigen,

dass nuur wir uns wichtig sind.

 

 

Derartige Texte sind allzu oft vor allem in sozialen Netzwerken zu lesen. Notorische Hobby-Smartphone-Poeten tragen mit solcher Art Texten nicht nur dazu bei, dass die Sprachfähigkeiten der Lesenden immer weiter nachlassen, sondern ebenso zu einem allgemeinen Verfall dessen, was man unter einem Gedicht verstehen könnte. Es zeigt sich an diesem Beispiel, wie wenig Wert einer korrekten Sprache beigemessen wird. Zeit nimmt man sich keine mehr, um einen Text mit Gedanken zu füllen und sie passend, einem Ziel entsprechend, zu strukturieren. Die Aussagen werden in völlig belangloser Art und Weise dargestellt. Solche Texte unterscheiden sich nicht mehr voneinander. Sie gleichen einander  wie Sandkörner in der Wüste. Derlei Texte werden von Verlagen natürlich lektoriert. Die mangelnde Orthographie verschwindet, wenn ein Lektorat seiner Arbeit tatsächlich nachging. Doch dann lesen wir abschließend den gleichen Text, dieselbe Belanglosigkeit, denselben Sprachverfall in einer Anthologie, die nicht nur das Auge mit jeder Seite trockener und trockener macht.

 

 

 

Extrem 2:

 

 

 

rosenblut

 

 

die scheiben liegen im luftleeren Raum

von ort zu ort verlieren wir uns und unseren verlust

rosenblut mischt sich mit deinem atem und deinen augen

meine luftschlösser steigen höher

bis die sonne fällt mit dem mond

 

 

Es wird auf der anderen Seite immer mehr zu einem Trend, auf die schwierige, deutsche Orthographie zu verzichten. Daher schreibt man besser gleich alles klein und setzt keine Satzzeichen mehr. Dies wird in den meisten Fällen als künstlerische Freiheit ausgelegt und verteidigt. Aber auch in der Lyrik gilt: Freiheit heißt nicht, ohne Sinn und Verstand zu handeln. Wenn die Abkehr von der korrekten Schriftsprache eine Relevanz hat, das heißt mit dem Inhalt einhergeht, ist jene Sprachlichkeit nicht zu verurteilen. Doch die Deckungsgleichheit von Form und Inhalt ist in den allermeisten Fällen einfach nicht gegeben, wie auch dieses Beispiel zeigt. Größtes Ärgernis solcherlei Texte ist aber ihre Zusammenhanglosigkeit. Man beobachtet Phrasen, die keinerlei Sinn in sich tragen. Sie sollen höchst poetisch wirken, haben aber keinen Inhalt, da sie nicht einmal eine Bedeutung haben. Es stellt sich die Frage, was mit diesem Text beabsichtigt wurde. Wollte man tatsächlich etwas sagen? Oder wollte man nur wirken oder scheinen? Diese Art von Texten findet sich immer mehr – vor allem in Literaturzeitschriften, deren Titel zumeist selbst kleingeschrieben sind und jeglicher Sprachkenntnis entbehren. Man mag einwenden, dass der Lesende, der Rezipient, der Interpret manch einmal nicht in der Lage ist, einen Text zu verstehen, obwohl er an sich verständlich ist. Auch das kommt vor. Aber wie oft? Anders gefragt: Wie oft sind aber jene Texte tatsächlich nicht zu entschlüsseln? Die entscheidende Frage dabei ist jedoch: Wieso schreiben Personen lyrisch wirkende Texte, nicht nur einfach für sich, sondern für andere (da sie sie veröffentlichen), die aber nicht verstanden werden sollen, weil sie nicht verstanden werden können?

Es bestehen also zwei Extreme: Das erste Extrem stellt schnell getippte Texte dar, welche weder inhaltliche Tiefe noch Verdichtung oder sprachliche Sorgfalt aufweisen. Das zweite Extrem weist zwar einen gewissen Grad an Verdichtung auf, jedoch können die Texte zumeist nicht verstanden werden, weil bedeutungslose und zusammenhangslose Phrasen, die poetisch scheinen sollen, gedroschen werden. Von sprachlicher Sorgfalt fehlt auch hier jede Spur. Zwischen diesen Extremen zeigen sich allerlei Zwischenformen. Und freilich gibt es hin und wieder auch sehr lesenswerte Lichtblicke. Aber Texte wie das Wüstenkorn „Was gesagt werden muss“ oder sogenannte Schmähgedichte (denn alles was sich reimt, sei schließlich ein Gedicht, glaubt der Volksmund) werden zusehends als Lyrik verkauft, womit eigentlich lyrische Texte entwertet werden. Texte, die zu Recht als Gedichte bezeichnet werden können, sind inhaltlich und sprachlich auf einem höheren Niveau, werden aber nicht mehr gelesen, da es schlichtweg verlernt wurde, sie zu lesen, geschweige denn zu genießen.

Das grundsätzliche Problem ist weniger, dass solcherlei Wüstenkörner geschrieben werden. Sehen wir noch einmal auf das erste Extrem, dann wird uns schnell bewusst, dass alle klein anfangen und stetig lernen müssen. Selbst das zweite Extrem kann auf diesem Wege als ein Experiment betrachtet werden, als eine Art Schreibübung, als ein kleiner Schritt, ein kleines Forschungsprojekt. Das grundsätzliche Problem ist, dass jene Extreme und die Zwischenformen inzwischen einzig und allein als erstrebenswerte Schreibziele gelten. Nur noch einzelne Ausnahmen von Autoren forschen, versuchen und schreiben weiter. Was bleibt, sind mehrheitlich Texte, die sich nicht mehr voneinander unterscheiden oder diese gar nichts mehr aussagen. „Die Wüste wächst!“

Warum sie veröffentlicht werden, könnte nur in einer langen kulturkritischen Betrachtung dargelegt werden, zu dieser ich hiermit mit Herzensglut auffordere, aber sie an dieser Stelle nicht darstellen kann und werde. Nur so viel sei gesagt: Auch in der Lyrik zeigt sich, dass schnell die Überzeugung herrscht, man sei in die Welt der Kunst, zu der die Lyrik gehört, eingetreten, nur weil man Reime gefunden hat oder etwas scheinbar poetisch schrieb. Aber ein Maler wird man nicht, wenn man einfach Farbe an die Staffelei klatscht. Man wird kein Fotograf, wenn man einfach knipst. Man wird kein Lyriker, wenn man einfach reimt. Kunst bedarf mehr, wenngleich sie mit an sich sehr einfachen Handlungen beginnt.

 

 

 

Wie man zu neuen lyrischen Formen gelangt

 

 

Gibt es neben den Wüstenkörnern und den wenigen Wüstenpflanzen aber überhaupt noch eine Möglichkeit, in der Lyrik etwas Neues zu erschaffen? Hat die vergangene Zeit nicht bereits alle möglichen Formen erprobt und erfunden? Beweisen das nicht jene Extreme, Zwischenformen und Ausnahmen?

Grundlage eines jeden Gedichtes sind Gedanken. Je nachdem welcher Art sie sind, sollte eine dazu passende Form gewählt werden. Eine differenzierte Betrachtung dieses Gedankens findet sich in meinem Aufsatz „Ein kurzer Blick auf die heutige Lyrik“. Auch wenn vielerlei Gedanken von uns Menschen immer wieder gedacht und reflektiert werden, entstehen stetig  neue. In diesem Kontext eignet sich ein Sonett beispielsweise sehr gut, um einen gedanklichen Dreischritt aus einer These, Antithese und Synthese darzustellen. Die Sonettstruktur ist, wie sie im Barock genutzt wurde, so konzipiert, dass die letzten zwei Terzette in der Regel eine Synthese ergeben, also einen Gedanken, welcher sich aus zwei gegensätzlichen Gedanken aus den zwei Quartetten zuvor ergibt und diese miteinander vereint. Andere lyrische Formen sind dagegen für andere Gedankenstrukturen und Inhalte geeignet. Es ist demnach immer an erster Stelle zu fragen: Was will ich überhaupt sagen? Danach folgt zugleich die Frage: Wie drücke ich den Gedanken am besten aus? Je nachdem wie wir die erste Frage beantwortet haben, können wir uns im nächsten Schritt für freie, experimentelle oder klassische Formen der Lyrik entscheiden. Dabei werden wir aber zusehends feststellen, dass unter allen bisherigen Angeboten manch einmal nicht das Richtige dabei ist. So kann eine Ode beispielsweise einen zu strengen Aufbau haben oder eine Liedstrophe zu einfach strukturiert sein, um bestimmten Gedanken Ausdruck zu verleihen. Andere Formen können zu frei sein, wieder andere bedürfen zu vieler Reime. Wenn wir also nichts finden, was für uns passend erscheint, liegt der Schritt nahe, einfach selbst eine neue lyrische Form zu kreieren. Die leitenden Fragen bei der Erstellung müssen immer die eben gestellten sein, um auch wirklich eine für die jeweiligen Gedanken passende Form zu finden. Wie der Ablauf allgemein erfolgt, welche gedanklichen Zwischenschritte vielleicht zu gehen sind, wie erste Ideen erprobt werden können und so weiter, lässt sich nicht allgemein aufzeigen. Daher illustriere ich den Ablauf an einem konkreten Beispiel.

Die Synthese eines Sonettes kann beispielsweise in bestimmten Zusammenhängen zu kurz gegriffen sein. Das heißt, man hat das Bedürfnis, weiter zu denken. Man ist noch nicht zufrieden. Man will noch etwas sagen und damit die Synthese zum Anlass nehmen, weitere Schlüsse zu ziehen und gegebenenfalls neue Fragen zu stellen, diese eine klassische Sonettstruktur sonst nicht ergeben würde. Dennoch hat man aber das Verlangen, weiterhin in irgendeiner Weise ein Sonett zu schreiben. Eine andere lyrische Form möchte man einfach nicht wählen, da die zu verdichtenden Gedanken Reime und eine strenge Struktur brauchen. Im Angesicht dieser Überlegungen entschied ich mich, eine neue lyrische Form zu entwickeln, diese ich Spiegelsonett nenne.

Zunächst präsentiere ich den lyrischen Text. Im Anschluss gehe ich auf ein paar ausgewählte formale Aspekte ein und verweise darüber hinaus auf die Anwendungsmöglichkeiten des Spiegelsonetts.

 

 

 

Der Sprung von der Kiyomizu-Terrasse

 

kiyomizu no butai kara tobioriru

 

Hoch über eurer Stadt vernehmt nun meine Klagen!

Nicht einsam will ich sein. Es lockt mich euer Wir.

Und dieser Segenfluch, er giert und greift nach mir.

Wie könnte ich denn nur dem Gleichschritttakt entsagen?

 

Vielleicht mit einem Sprung? Ja, sollte ich ihn wagen?

Denn ich will keinen Ruhm, verdamme jede Gier.

Mir sind sie einerlei. Ich denke nicht wie ihr!

Doch bin ich stark genug, die Einsamkeit zu tragen?

 

Ich habe eine Wahl! Wie soll ich mich entscheiden?

Verachte ich den Zwang, dann muss ich einsam springen.

Bedenke ich die Pein, lass ich mich lieber zwingen.

 

Ich springe besser nicht, erspare mir das Leiden

und lass den Gleichschritttakt dann zögernd leise klingen.

Nur so gelingt es mir, das Schlimmste zu vermeiden.

 

Auf diesem Mittelweg, der zwischen jenen beiden

getrennten Pfaden liegt, will ich mein Glück besingen.

Denn nur ein solcher Weg wird es mir je bescheiden.

 

Wer diesen aber geht, hat vieles aufzubringen

und muss zur selben Zeit mit gleich zwei Seiten ringen.

Wer so zu leben hat, den wird man nie beneiden.

 

Ein Kompromiss ist falsch! Drum muss ich klarer fragen:

Bereitet und entfacht die Einsamkeit ein schier

so qualerfülltes Leid, sodass ich jetzt und hier

nicht springen werden kann? Bleibt mir nur zu versagen?

 

Ach, könnte jemand mir die rechte Antwort sagen.

Doch dann begreife ich! Der Seufzer zeigt es mir,

dass ich schon einsam bin in eurem großen Wir.

Hoch über eurer Stadt, will ich den Sprung nun wagen!

 

 

 

Das Spiegelsonett besteht aus insgesamt 28 Versen. Die ersten vier Strophen bilden ein Sonett im Stile des Barocks. Wir finden dazu in den ersten zwei Strophen eine These und eine Antithese. Beide Gedanken werden in den nachfolgenden Terzettstrophen zusammengeführt und ergeben ein vorläufiges Ergebnis. Anstatt aber nun das Sonett einfach abzuschließen, folgen zwei weitere Strophen, die den bisherigen entwickelten und synthetisierten Gedanken weiter ausführen. Daraufhin folgt mit den letzten zwei Quartettstrophen eine Darstellung eines ganz neuen Ergebnisses, zu welchem ein bloßes Sonett zunächst nicht gelangt wäre. Eine andere Möglichkeit wäre es gewesen, die letzten zwei Strophen mit offenen Fragen, die sich aus den weiteren Überlegungen ergeben haben, auszustatten. Die Struktur des Spiegelsonettes erlaubte es mir jedenfalls, einen Gedanken weiter zu verfolgen und gleichzeitig in einem strengen lyrischen Gerüst zu bleiben. So hatte ich die Möglichkeit, wesentlich strenger und genauer mit den Formulierungen zu arbeiten, als es beispielsweise bei einfachen Liedstrophen der Fall gewesen wäre. Natürlich war der Arbeitsaufwand so wesentlich höher. Die Gedanken und Formulierungen nahmen so aber an Schärfe zu, sodass die Überlegungen des lyrischen Ichs an Tiefe und hoffentlich auch an Klarheit gewinnen konnten.

Die lyrische Form nenne ich Spiegelsonett, da strukturell gesehen, ein Sonett entlang einer Achse gespiegelt wird, welche sich nach der vierten Strophe finden lässt. Es weist dementsprechend folgendes Reimschema auf:

 

 ABBA ABBA CDD CDC // CDC DDC ABBA ABBA.

 

            Wie die Reime gebildet oder die Quartette und die Terzette in ihren Reimen strukturiert werden, bleibt, je nachdem welcher Sonetttyp gewählt wird, dem Dichter überlassen. Entscheidend ist, dass im Reimschema die Spiegelachse (symbolisiert durch „//“) nach der vierten Strophe zu erkennen ist. Inhaltlich ist es für den Gedankenverlauf nicht zwingend, die Strophen sich spiegeln zu lassen. Das meint, dass die erste und letzte Strophe sich nicht zwingend mit derselben inhaltlichen Problematik auseinandersetzen müssen. Im Falle des Beispieltextes wählte ich diesen Schritt nicht, um eine bloße Wiederholung der aufgeführten Gedanken zu vermeiden. Wichtig ist ferner, die einzelnen Verse denen eines klassischen Sonetts entsprechen zu lassen. Dazu können in der klassischen Ausführung entweder fünfhebige Jamben oder der Alexandriner gewählt werden. Die hohen Hebungszahlen garantieren, dass komplexe Gedanken in die einzelnen Verse gefasst werden können. Daher sind weniger Hebungen und damit eine Abweichung von der klassischen Struktur zwar denkbar, aber wahrscheinlich nicht zu empfehlen. Für das Anfertigen des Beispieltextes nutzte ich den Alexandriner. Er erlaubte es mir, einerseits längere Gedanken in den Zeilen auszudrücken und andererseits auch mit kurzen Gedanken aufgrund der einzuhaltenden Zäsur nach der dritten Hebung zu spielen. Die Verse haben somit eine eigene, vor allem auch für den Vortrag gut geeignete Struktur. Ein weiterer Vorteil des Alexandriners und der Möglichkeit, auch kurze Gedanken miteinander zu vereinen, besteht darin, dass beim Schreiben weniger Füllwörter gebraucht werden, als es bei fünfhebigen Jamben mitunter der Fall ist. Das muss nicht schlechterdings ein Nachteil sein. Da aber einige meiner älteren Sonette diesen Kunstgriff mehr oder minder deutlich erkennen lassen, wollte ich versuchen, möglichst darauf zu verzichten.

Das Verfassen eines Spiegelsonetts ist vor allem für philosophische Gedanken geeignet. Ein klassisches Sonett kann dagegen auch dazu dienen, um bestimmte Stimmungen darzustellen. Denn das Sonett ist in seinen Ursprüngen ein klingendes Gedicht, dessen dreischrittige Gedankenstruktur erst mit dem Barock entwickelt wurde. Das Spiegelsonett ist dagegen ausschließlich als ein Gedankengedicht zu verwenden. Die Spiegelung würde im Falle einer Stimmungsdarstellung eher zu unnötigen Wiederholungen führen. Des Weiteren sollte für ein Spiegelsonett die Struktur der klassischen, romanischen Sonette gebraucht werden. Der Shakespeare-Typ ließe sich zwar auch strukturell spiegeln, aber aufgrund der stark pointierten vierten Strophe, müsste bei einer Spiegelung erneut eine Pointe einfließen, ohne dass sinnvoll tiefere Gedanken entwickelt werden können. Dieser Anwendungsbereich ist jedoch nur einer, den ich mir im Moment für das Spiegelsonett vorstellen kann. Sicherlich wird es weiteren Dichtern gelingen, die Form auf ihre persönliche Art und Weise zu nutzen.

Alles in allem hoffe ich, dass das Beispiel belegen konnte, dass auch heute noch neue lyrische Formen entwickelt werden können. Sich dahingehend zu bemühen, neue Wege zu gehen, kann dazu dienen, eigene Gedanken noch gezielter darzustellen und damit die Wüste mit ein bisschen mehr Leben zu versehen. Und immer wieder sollten wir uns beim Schreiben und überhaupt bei jeder Form der Kunst fragen: Was will ich sagen? Wie bringe ich meine Gedanken am besten zur Geltung?

 

Quelle

 

 

Nietzsche, Friedrich, Kritische Studienausgabe Band 6, 10. Auflage, 2011.