Über den Stümper in der Dichtung

 

 

 

Der Stümper allgemein

 

 

 

Gehen wir von der mehr oder minder unstrittigen Annahme aus, zu einem guten Stück Dichtung gehören Gefühl, Gedanke und Handwerk, oder allgemeiner gesagt, gute Dichtung zeichne sich durch eine Übereinstimmung von Form und Inhalt aus, dann gilt der Stümper in der Dichtung ganz allgemein als derjenige, dessen Texte diese Voraussetzungen nicht erfüllen. Auch wenn er beispielsweise über die Liebe schreibt, strotzen seine Texte voller austauschbarer Begriffe und entbehren damit jeder Individualität. Mit anderen Worten: Von Gefühl ist keine Rede. Seine Gedanken kann er nicht klar darstellen; er verliert sich in Unverständlichkeit oder lässt sich seine Inhalte vom Drang, unbedingt reimen zu müssen, diktieren. Eine Kommunikation mit den Lesern wird durch den fehlenden Bereich des Gedankens verunmöglicht. Trotz Reime kennt er kein Metrum. Trotz verwendeter Sprache kennt er dessen Semantik und Syntax nicht. Trotz aller Möglichkeiten, einen Text vor der Veröffentlichung prüfen zu lassen, ist jeder Text mit Tipp- und Schreibfehlern übersät. Es sind für jeden Bereich noch viele weitere Varianten denkbar.

 

Nicht will ich sagen, dass ein Stümpergedicht kein Gefallen finden kann. Meinungen variieren, fluktuieren und verlieren sich. Aber im Vergleich zu einem Meistergedicht wird das Stümpergedicht hinsichtlich Kommunikation, Inspiration und Motivation immer den Kürzeren ziehen. Was soll das heißen? Nehmen wir ein Liebesgedicht von Heine in die Hand und vergleichen es mit einem heutigen Stümperliebesgedicht auf Facebook, können wir uns die Frage leicht beantworten.

 

 

 

Was möchte der Stümper?

 

 

 

Betrachten wir den Stümper in seiner natürlichen Umgebung, das heißt vorrangig in sozialen Netzwerken oder Autorengruppen, erkennen wir auf einer abstrakten Ebene ein bestimmtes Verhalten: Auf der einen Seite fordert der Stümper etwas. Auf der anderen Seite verwirklicht er selbst nicht, was er fordert, beziehungsweise macht das Gegenteil von dem, was er fordert. So lesen wir häufig, dass er an Austausch und konstruktiver Kritik interessiert sei, aber Beleidigungen oder allgemeines Gemotze ablehne. Sein Austausch mit anderen besteht dann darin, einen blauen Daumen zu setzen oder höchst umfangreiche und an Präzession kaum zu überbietende Kommentare zu hinterlassen, wie: „Sehr schön!“, „Das gefällt mir!“, „Weiter so!“, „Hut ab!“, „Klasse geschrieben!“ … Von Personen, die mit dem Schreiben an sich nicht viel zu tun haben, können solche Lobesworte durchaus erfreulich sein. Stammen sie aber von denjenigen, die sich schließlich selbst auf die Stirn geschrieben haben, Dichter zu sein, kommen derlei Kommentare vielmehr wie ein großes Veralbern daher. Und einmal ehrlich, wer sonst als letztere kommentiert denn angebliche Gedichte auf Facebook oder sonstwo?

 

Wenn wir uns schließlich entscheiden, konstruktive Kritik zu üben, und dazu lädt jeder Stümpertext per defitionem ein, erhalten wir als Antwort merkwürdigerweise das, was der Stümper doch ablehnte: Motzen, Meckern, Beschimpfen … Wir sollten es uns nun nicht so einfach machen und mit Schulz von Thun argumentieren, dass der Stümper einfach Sach- und Emotionsebene miteinander vertauscht. Betrachten wir den ganzen Auswuchs seiner Heuchelei, erstellt sich rasch ein anderes Bild: Der Stümper hat ein ganz bestimmtes Ziel; er will ein Produkt verkaufen beziehungsweise einen Lohn für seine Arbeit erhalten. Nicht um andere zu inspirieren, mit anderen in den Dialog zu treten oder andere zu etwas zu motivieren, veröffentlicht er, sondern weil er mit Lob und Schmeichelei bezahlt werden will. Sein Interesse gilt nicht dem Austausch. Er will erfahren, dass er ein Guter ist, eben weil er aus seiner Perspektive gedichtet hat. Sein Ego verlangt nach einer Aufwertung oder wenigstens nach einer Bestätigung. Wer es dann wagt, nicht das, was er von seiner Umwelt erwartet, das heißt Ehrerbietung, zu liefern, bekommt seinen Zorn zu spüren.

 

Nun könnte jemand einwenden, dass das hier doch alles überpolemisch sei und der Wahrheit entbehrte. Ich kann für Beweise nur empfehlen, einfach einmal selbst eine Autorengruppe aufzusuchen und das Verhalten einiger Leute genau zu beobachten, oder schlichtweg eine beliebige Literaturgruppe in sozialen Medien näher kennenzulernen. Wie erklärt es sich dann, dass jemand überall in sozialen Medien zu finden ist, auf jede Lesebühne rennt, sobald ein Platz frei ist, fast wöchentlich ein neues Buch publiziert, täglich irgendwo in einer Anthologie aufgenommen wird, sich wohlgefällig sein Lob anhört, aber schmallippig wird, geht es nur einmal um jemand anderen, und errötet, wenn man ihn fragt, ob er dieses und jenes Werk seines Kollegen gelesen hätte?

 

 

 

Der Stümper in der Kritik

 

 

 

Gehen wir davon aus, ein Stümper wird konstruktiv kritisiert, das heißt, er als Person ist uninteressant und nur sein Text zählt. Zum Text bemerken wir daher durchaus Positives, zeigen Schwachstellen auf und entwerfen Vorschläge, die Schwachstellen zu beseitigen. Anders gesagt: Wir verwenden sehr viel Zeit darauf, einen Text zu analysieren, zu verstehen und dem Autor ein brauchbares Feedback zu hinterlassen. Wie ist die Replik des Stümpers beschaffen? Hier eine Liste der Möglichkeiten, wobei streng zu beachten ist, dass stets zwei wesentliche Punkte fehlen: ein Dank und die Motivation, etwas zu verbessern.

 

 

 

-          Hast du den Text überhaupt gelesen?

 

-          Mir gefällt dein arroganter Ton nicht!

 

-          Das habe ich bewusst so geschrieben.

 

-          Komplizierte Gedanken müssen kompliziert ausgedrückt werden.

 

-          Meiner Wahrheit nach ist das so richtig.

 

-          Jawohl, Herr Oberlehrer.

 

-          Mir gefällt es so, deswegen bleibt es so wie es ist.

 

-          Ich habe bereits veröffentlicht, ich weiß doch, wie das geht.

 

-          Meine anderen Leser sehen das aber anders.

 

-          Das ist Kunstfreiheit.

 

-          Ich muss doch nicht so schreiben, wie du es verlangst.

 

-          Wenn du nichts Gutes zu sagen hast, dann lies doch bitte andere Texte.

 

-          Ich schreibe bereits seit so und so vielen Jahren und brauche daher deine „Anmerkungen“ nicht.

 

-          Tja, mein Stil gefällt eben nicht jedem.

 

 

 

Die Liste ließe sich noch bis ins Unendliche fortführen. Schauen wir uns daher kurz ein paar wesentliche Merkmale an: Obwohl wir ein umfassendes Feedback geschrieben haben, kommen nur kurze Phrasen zurück, die nicht auf die geäußerten Gedanken eingehen, keinen Dialogen suchen und damit nicht argumentativ prüfen, ob das Gesagte so richtig, überdenkenswert oder einfach falsch ist – schließlich kann sich sehr wohl auch der Kritiker irren. Die knappen Gedanken haben alle die Form von Ausreden, wobei sie oftmals sehr voraussetzungsreich sind. Was heißt es beispielsweise, wenn jemand von „seiner Wahrheit“ spricht? Ist es nicht gerade ein Merkmal der Wahrheit, dass sie subjektunabhängig ist? Was heißt Kunstfreiheit? Etwa, dass man sich um Gefühl, Gedanke und Handwerk nicht mehr zu scheren braucht? Ist es Gedicht deswegen plötzlich von Rechtschreibfehlern frei, nur weil andere Leser meinten, das Gedicht sei gut?

 

Das Resultat des ganzen Herausredens, Schwadronierens und Stammelns ist einfach und leicht beobachtbar: Die Qualität der Stümpertexte bleibt immer dieselbe. Weil der Autor nichts ändern will, denn er hascht schließlich nur nach Ehre und Ruhm (und er wird schon seine Ehrerbringer finden), arbeitet er sich stets an den denselben Inhalten, Formulierungen und Motiven ab, was eine Resistenz gegenüber Selbstreflexion und dem Wahrnehmen von Fehlern zur Folge hat.

 

 

 

Der Stümper und die Vielschreiberei

 

 

 

Vielschreiberei ist an sich kein Problem. Denn um ein Handwerk wie das des Schreibens zu erlernen, braucht es viel Übung. Beim Üben erproben wir uns, spielen mit Formulierungen und Strukturen oder imitieren hin und wieder unsere Vorbilder, um von ihnen besser lernen zu können. Die Vielschreiber des Stümpers ist anders geartet: Sobald er einen Reiz verspürt, schreibt er, was ihm einfällt, nieder, kontrolliert es nicht und veröffentlicht es sofort. Dabei entstehen, allgemeingesprochen, Schablonengedichte, die sich mit immergleichen abstrakten Begriffen bestückt sehen und nur von Tag zu Tag ein wenig hin- und hergeschoben werden, um den Anschein zu wahren, man hätte etwas Neues geschrieben. Die Schablonengedichte lassen sich auch weiter untergliedern in Schmonzetten, Anlasstexte und Zwiebelgedichte. Das Zwiebelgedicht thematisiert alles Düstere in der Welt; typische Abstracta sind: Leid, Schmerz, Herz, Schwarz, Tod, Nacht, Qual und nicht zu vergessen die Tränen! Schmonzetten können einerseits auf die billige Verdichtung von Liebe oder Ähnlichem, aber auch auf ein Lob der Poesie selbst abzielen, sodass unter anderem folgendes semantisches Feld abgedeckt wird: Liebe, Traum, Harmonie, Klang, zart, sanft, Melodie, Kuss, Sehnsucht, Herz sowie Freude, Glück und Tralala. Die Anlassgedichte beziehen sich in der Mehrheit entweder auf Jahreszeiten oder auf aktuelle Ereignisse. Wird es Herbst, ist etwas von bunten Blättern und Nebel zu lesen, werden zwei Leute in Halle erschossen, dann rotzt man irgendetwas von Unverständnis und Trauer auf das Papier, auf dass alles am nächsten Tag wieder vergessen ist.

 

Die Schablonentexte des Stümpers zeichnen sich neben immergleichen Abstracta wesentlich durch unveränderliche Denkmuster aus. Wir können so leicht beobachten, wie in heutiger Liebeslyrik in der Mehrheit immer noch starre Rollenbilder von der armen Maid und dem heldenhaften Ritter zu lesen sind, wie in Anlassgedichten lieber Politiker oder überhaupt alle anderen auf der Welt angeklagt und verurteilt werden, man sich selbst aber implizit als Träger der ultimativen Moral sieht, und dass Schablonentexte nie eingesetzt werden, um Humorgedichte zu schreiben. Das verwundert nicht besonders, denn nichts liegt dem Stümper ferner als Selbstironie, das Lachen, das Abstandnehmen, das Reflektieren, das Spielen, das Spaßhaben. Schließlich macht er ja etwas sehr, sehr Ernstes, etwas, das er Dichten nennt, aber in Wirklichkeit Marketing ist, das darauf abzielt, mit maximal niedrigem Einsatz maximal hohen Gewinn, das heißt blaue Daumen und Lobeshymnen zu erzielen.

 

 

 

Die Missverständnisse des Stümpers

 

 

 

Gerade in der Reaktion auf Kritik offenbaren sich immer wieder zahlreiche Missverständnisse, denen der Stümper aufsitzt. In sozialen Netzwerken brüstet er sich mit der Anzahl von blauen Daumen, die er für einen seiner Texte, für seine Facebookseite oder Ähnlichem oder für seine Texte innerhalb eines Jahres erhalten hat. So bedankt er sich dann bei allen, die den blauen Daumen gegeben haben und bringt seine Freude zum Ausdruck. Doch wofür? Ein blauer Daumen kann jederzeit gesetzt werden, ohne den Text gelesen zu haben. In sozialen Netzwerken genügt es in überwiegendem Maße, einfach etwas zu veröffentlichen und man wird mit blauen Daumen gewürdigt, weil man sich kennt, etwas für den blauen Daumen wiederum erwartet oder weil man einfach dazugehören will. Ein blauer Daumen hat keine Bedeutung, drückt per se keine Achtung, keine Wertschätzung, kein Verständnis, ja kein Lob aus. Es ist und bleibt einfach nur eine aktivierte Schaltfläche in einem Netzwerk, das rein wirtschaftlich orientiert ist. Ähnlich verhält sich mit Kommentaren wie „Schön!“, „Klasse!“ oder „Super!“. Was drücken diese Kommentare aus? Worin besteht der Anlass, sich über sie zu freuen? Ein „Super!“ heißt erst einmal gar nichts, solange man keine Indizien dafür hat, dass der Lobredner in der Lage ist, die Güte oder wenigstens den Aufwand eines Textes zu beurteilen. Mit anderen Worten: Was nützt es, von Kommentar-Stümpern gelobt zu werden?

 

Ferner misst der Stümper der Anzahl an Veröffentlichungen in Anthologien und Büchern einen irrsinnigen Wert zu. Natürlich kann es eine Freude sein, sein eigenes Buch zu veröffentlichen oder einen Anthologiewettbewerb gewonnen zu haben. Doch von welcher Art ist die Freude, wenn man gerade im Bereich der Dichtung vielleicht nur 30 Bücher verkauft, kein Feedback, keine Rezension, sondern nur ähnlich überflüssiges Lob, wenn überhaupt, wie in den sozialen Netzwerken erhält? Ist der Schluss vom einsilbigen Lob der Verwandtschaft auf das eigene dichterische Können gerechtfertigt? Nun, der Stümper bejaht das.

 

Betrachten wir Anthologien: Es gibt einige gute im deutschsprachigen Raum, die mit viel Liebe und Herzblut produziert werden. Wer liest sie jedoch? Wer von den Lesern gibt eine Rückmeldung? Welche von den Rückmeldungen betrifft einmal das eigene Stümpergedicht? Ohne das zu bedenken, erfreut sich der Stümper jedoch des Umstandes, dass es schon 20 Bücher und 3000 Anthologiebeiträge veröffentlicht hat – und das im Kontext, dass es noch nie so einfach wie heute war, Stümpertexte zu publizieren.

 

Des Weiteren meint der Stümper, gut schreiben zu können, weil er bereits lange Zeit schreibt. Dieses Argument wird besonders gerne von älteren Exemplaren genutzt, wenn jüngere Kritiker sich erdreisten, nicht angemessen zu loben, ja sogar die Güte eines Textes infrage zu stellen. Was lange währt, wird deswegen noch nicht gut. Dichten ist kein Wein. Um gut zu werden, bedarf es eines Zutuns. Wenn die Stümpergedichte genauso geartet sind, wie vor 30 Jahren, wo besteht der Grund, zu meinen, sie seien in irgendeiner Form besser geworden?

 

Und für alle, die jetzt bereits die Nase rümpfen und ihre Wutstümperbürgerantwort planen, sei es noch einmal kurz geradegerückt: Nirgends steht hier, dass ein blauer Daumen, eine Veröffentlichung oder langes Schreiben nicht auch ein Gütekriterium sein können. Ich spreche bewusst all diesen und weiteren Dingen per se einen Wert ab. Anders gesagt: Diese Dinge bekommen erst durch den jeweiligen Autor oder Kommentierer Güte verliehen – oder das Gegenteil. Ein blauer Daumen sagt nichts über Können oder Qualität aus, nur weil er gesetzt wurde.

 

 

 

Fazit

 

 

 

Was ist ein Stümper? Nicht nur jemand, der qualitativ schlecht schreibt (und ich spreche hier nicht von subjektiven Kriterien an ein gutes Gedicht). Er ist jemand, der viel, sehr viel und immer dasselbe schreibt. Der Stümper ist ein Heuchler, der von seiner Umwelt abverlangt, was er selbst nie leisten wird. Er trägt viele narzisstische Züge in sich. Ich lehne mich auch aus dem Fenster hinaus und behaupte, dass der Stümper immer auch ein reiner Narzisst ist.

 

Wie sollten wir mit Stümpern umgehen? Wann immer es sich anbietet, sollte wir deren Gemeinschaft meiden. Können wir nicht drumherum, sollten wir ihnen nicht zürnen, aber ihre Worte keinesfalls ernst nehmen, egal ob das ihre Texte oder Einschätzungen betrifft. Haben wir jemanden als Stümper erkannt, gebietet letztendlich die Klugheit, mit ihm keine Zeit zu verschwenden. Besser ist es daher, die Texte von Leuten zu lesen, die kommunizieren, inspirieren und motivieren wollen, beziehungsweise die daran interessiert sind, sich zu verbessern, zu lernen und gemeinhin in den Dialog zu treten. Das Wichtigste ist jedoch alles in allem, dass wir jeden Tag all unsere Energie beim Schreiben dafür einsetzen sollten, nicht selbst ein Stümper zu werden und damit eine der schönsten und hehrsten Errungenschaften der Menschheit, das heißt die Dichtung, entweihen.

 

 

 

Der Stümper

 

Zu singen zu „Das Model“ von Kraftwerk

 

 

 

Er ist ein Stümper und so schreibt er auch.

 

Von Reimkultur versteht er keinen Hauch.

 

Verfasst er seine Verse einmal frei,

 

dann sind sie auch bloß krumm und einerlei.

 

 

 

Er hält sich gern für einen Goethespross

 

und stümpert nur noch auf dem höchsten Ross.

 

Vernunft und Witz sind für ihn gar nichts wert,

 

denn groß wird nur, wer den Affekt verehrt.

 

 

 

Er fragt sich ständig: „Hat mich wer geliket?“

 

Und faucht: „Nur fünf? Ich habe es vergeigt!“

 

Doch baldigst schickt man ihm den Buchvertrag

 

beim Buchdruckkostenzuschussgeilverlag!