Leseproben - Vermischtes

Vier Jahreszeiten

 

Das Frühjahr ist gekommen.

Ich schreibe eine Zeile:

„Das Frühjahr ist gekommen.“

Beim Leser: Langeweile!

 

Der Sommer ist gekommen.

Ich schreibe eine Zeile:

„Der Sommer ist gekommen.“

Beim Leser: Langeweile!

 

Die Herbstzeit ist gekommen.

Ich schreibe eine Zeile:

„Die Herbstzeit ist gekommen.“

Beim Leser: Langeweile!

 

Der Winter ist gekommen.

Ich schreibe eine Zeile:

„Der Winter ist gekommen.“

Beim Leser: Langeweile!

 

Roitzsch

 

Die Kirchturmuhr kracht exakt vierzig nach fünf vor halb neun in sich zusammen. Auf einer von einer Straße versammeln sich alle der noch nach dem letzten Instagram-Absturz übriggebliebenen sechsunddreißig Bewohner der nordsächsischen Welthandelsmetropole Roitzsch, die Zweitausendsechszehn in die Deutschland GmbH überführt wurde. Im ethylenhaltigen Wind aus den Nachbarregionen, die keiner je besuchte, klackern die letzten noch nicht abgehangenen Plakate der Landtagswahl aus dem Jahr neunzehnhundert-xdreiviertel. Die einstmaligen Farbspiele in schwarz, rot und weiß sind längst einem Nebelhorngrau gewichen und klingen dementsprechend bei mäßigem Nordost, jedoch nicht bei starkem Südwest. Das wäre ja sonst nicht noch schöner, nicht wahr?

„Ich bin eine Perle, werft mir eine Sau vor die Füße!“, schreit ein weißbärtiger Mann aus dem Fenster seines CO2-tauglichen Flug-U-Bootes und startet in Richtung Mond, da in Roitzsch ein für die Wirtschaft fataler Käsemangel herrscht. Die Bewohner gaffen fasziniert in die völlig falsche Richtung, als das Flug-U-Boot abhebt, hoffen aber auf eine baldige Lösung ihres Problems, da ansonsten wieder die Umsiedlung droht.

Viele Stunde passiert gar nichts. Daher liest man auch hier: Viele Stunden passiert gar nichts. Doch dann passiert etwas und daher steht hier: Doch dann passiert etwas: Ein riesiger Emmentaler kracht in den kleinen Park in der Mitte des Ortes und erschlägt kurz und bündig den amtierenden Ortsvorsteher – wieder einmal. Seine erneut letzten Worte sind: „Meine Modelleisenbahn … ich brauche mehr Dachziegel!“ Diese bedeutungsscheinschwangeren Worte werden nicht in irgendein Geschichtsbuch geschrieben, wie auch sonst nichts über den Ortsvorsteher zu lesen sein wird, der stets namens- und tatenlos in den Erinnerungen der Roitzscher bleiben wird.

 

Wieder viele gähnende Stunden später landet das Flug-U-Boot mit einer neuen Bemalung auf selbiger Straße, von der es aus gestartet ist. Keinen interessiert es, denn die Roitzscher Wirtschaft ist längst wieder dabei, geklöppelte Käsefondue-Sets für Nordsachsen herzustellen und sie an umgekippte Radtouristen im Alter von fünfundfünfzig und sechsundfünfzig Jahren zu verkaufen. Der Handel boomt wieder. Die Krise ist abgewehrt; die Umsiedlung vertagt. Der Weißbärtige nimmt die fehlende Anerkennung gelassen, eilt zum nächsten Landwirtschaftsbetrieb und schmeißt sich selbst eine Sau für die Füße.

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Ich habe freilich ein Geschlecht und Alter,

auch manchmal Knie sowie auch manchmal Rücken.

Als ewigtreuer Nachlassgutverwalter

versteh’ ich Menschenherzen zu beglücken.

 

Mit vielen Leidenschaften kann ich prahlen.

Besonders liebe ich das Schlangestehen,

das stille Malen nach geraden Zahlen

und dem geschenkten Gaul ins Maul zu sehen.

 

Mein Geld genügt für eine Einraumwohnung

und meine Schönheit, die kommt tief von innen.

Ein jeder Tag mit mir ist stets Belohnung.

 Ich weiß es schon, Du wirst mich liebgewinnen.

Dinge, die keiner braucht!

 

 

Toll!

Klasse geschrieben!

Smiley!

Wow!

Die Sonne scheint

auch bei uns!

Ich grüße zurück!

Sehr schön!

Gefällt mir!

Das ist so wahr!

Danke für diesen Text!

Es regnet auch bei uns!

Herzchensmiley!

Schöne Worte!

Mein Herz

hast du damit berührt!

Gut gebrüllt, Löwe!

Wundervoll, danke!

Dir auch ein

schönes Wochenende!

Himmlisch!

Schön, und schau mal,

was ich geschrieben habe!

Wowsmiley!

Es schneit auch bei uns!

Großartig!

Weiter so!

So ist es!

 

Mein letzter Wille

 

Wenn ich mir vorstelle, im hohen Alter kurz vor dem Moment zu stehen, an dem ich einsehen muss, dass es weder einen Himmel, noch eine Hölle, sondern nur die auf das gesammelte Karma beruhende Wiedergeburt gibt, wäre mein letzter Wille in diesem Leben ungefähr der Folgende:

In einem Rollstuhl möchte ich noch einmal die Welt sehen und das Leben genießen! Nicht irgendetwas von der Welt, sondern Berlin; die große Stadt wäre mein Wunsch. Vor allem der Süden würde mich reizen, genau genommen das Gewerbegebiet von Berlin-Mariendorf, dort wo das mechanische Paketzustellzentrum liegt. Ich würde veranlassen, eine Führung durch die Anlage zu erhalten. Besonders lieb wäre mir all das im Winter, denn dann könnte ich im Rollstuhl unter einer flauschigen Decke durch die Anlage geschoben werden, ohne dass ich mich erkälten würde und ohne dass mein Gürtel auffiele.

Dann würde man mir beschreiben und erklären, wie alles dort funktioniere, welcher hoher Standard vorherrsche und welche besonderen Leistungen man vollbrächte. Vielleicht schüttelte ich dem ein oder anderen Arbeiter die Hand und sähe in seine ehrlichen Augen. Vielleicht fände ich in einem Abstellraum auch meine alten Pakete, vielleicht die drei Geschenke, die ich meinen Enkeln nicht machen konnte, weil sie mich nie erreichten, vielleicht meine Kamera, die ich nie erhielt und mir somit der Traum, Fotograf zu werden, immer verwehrt blieb, vielleicht noch dieses und jenes, das tatsächlich nie verschwand, nur einfach nicht weiter bearbeitet und versendet wurde.

 

In der großen Lagerhalle möchte ich dann noch einmal das Leben spüren und mit letzten Kräften etwas schreien, während ich einen Zünder in die Hand nehme. Alle würden mich panisch anstarren und ich machte einfach nur: Klick! … Klick! … Klick! … Klickklickklick! Und genau zu diesem Zeitpunkt des wirkungslosen Klickens würde ich die ultimative Wahrheit erhalten, nämlich dass bei DHL auch wirklich nie etwas funktioniert!