Das Schlagwort

Vor gut dreißig Jahren kam ein Wort auf die Welt. Wäre das unter anderen Umständen und in einer anderen Gegend geschehen, hätte aus dem Wort vielleicht ein ansehnliches Kompositum oder sogar ein vielgenutzter Fachausdruck werden können. Jedes Wort hat dazu die Chance.

Leider war das Wort nicht geplant. Das bekam es während seiner gesamten Jugend zu spüren. Sein Umfeld war einem ausgewogenen Sprachgebaut abgeneigt. Daher intonierte man das Wort undeutlich oder im fürchterlichsten Dialekt der Republik, schrieb es mit allen erdenklichen Rechtschreibfehlern und setzte es in jedem Satz falsch ein. Niemand kannte seine wahre Bedeutung. So ist es kein Wunder, dass das Wort nie seine vollen Möglichkeiten kennenlernte und sein Potenzial ausschöpfen konnte. Auch war es lange Zeit ein Außenseiter, da ihn die Nomen, Verben, Nebensatzeinleitungen und die Stammwörter mieden. Die einzigen Freunde, die es bald haben sollte, waren gewaltbereite Kraftausdrücke, die sich ausschließlich mit Ausrufezeichen schmückten. Ihren Hass, ja ihre gesamte Weltsicht übertrugen sie auf das Wort, aus dem letztendlich ein Schlagwort wurde.

Heute findet man das Schlagwort in TikTok-Videos, auf Facebookseiten und Kommentarspalten, die sich gegen Toleranz, Solidarität, Wahrheit, Bildung, Empathie und so viele andere Dinge aussprechen. Manchmal taucht es ebenso in Büchern auf, manchmal in Zeitungen, neuerdings auch auf Demonstrationen, denn unter lautem Traktorenkrach fühlt es sich am wohlsten.

Das Schlagwort kommt heute viel herum, es hat in gewisser Weise eine Karriere gemacht, doch nachts, wenn es allein zu Hause im Bett liegt und ihn der Schmerz überkommt, ungewollt und nur auf dieser Welt zu sein, um anderen wiederum Schmerzen zu bereiten, weiß es, dass ausschließlich die Wiederholung immergleicher Lügen und starke Betäubungsmittel helfen, um überhaupt noch Schlaf finden zu können. 

Ein bisschen Sand

Aus dem Norden naht ein Rauschen.

Herbstglanzwellen, ihr ruft mich!

Gerne würde ich euch lauschen

morgendlich und abendlich.

 

Kann nicht weinen, kann nicht lachen.

Diese Welt ist kalt und leer.

Kann nicht warten, kann nichts machen.

Und die Augen werden schwer.

 

Wäre ich nur auf der Reise

spürt` ich längst den Meeresduft

und genösse atemweise

reine, salzerfüllte Luft.

 

Kann nicht weinen, kann nicht lachen.

Diese Welt ist kalt und leer.

Kann nicht warten, kann nichts machen.

Und zu leben, fällt mir schwer.

 

Wäre ich bereits im Fernen,

griff ich jetzt mit meiner Hand

unter silberklaren Sternen

lächelnd nach ein bisschen Sand.

 

Kann nicht weinen, kann nicht lachen.

Diese Welt ist kalt und leer.

Kann nicht warten, kann nichts machen.

Schon bald, ach, bin ich nicht mehr.

Komm’, wir rauchen einen Fliegenpilz!

Komm’, wir rauchen einen Fliegenpilz!

Denn dann geht’s uns allen gut.

Dort im Beutel ist noch etwas drin.

Nimm dir, was du brauchst, nur Mut!

 

Komm’, wir rauchen einen Fliegenpilz!

Ja, was ist denn schon dabei?

Ziehen wir jetzt einmal kräftig durch,

werden die Gedanken frei!

 

Komm’, wir rauchen einen Fliegenpilz!

Gib mir mal das Feuer her.

Schau’, ich zünde dir die Tüte an.

Das ist überhaupt nicht schwer.

 

Nebelschwaden schweben zwischen uns

und die Raumzeit kollabiert.

Unser Geist wird Gott und Gott wird Geist.

Wir sind völlig fasziniert.

 

Und wir rauchen einen Fliegenpilz,

Herrlich! Gleich ist es so weit!

Wir genießen noch den letzten Zug

Richtung stiller Ewigkeit.


Stillstand

Wenn alles just im Wandel ist,

dann mache dich nicht krumm

und bleibe einfach, was du bist:

beschränkt und deutsch und dumm.

Sachsens K(r)ampf gegen Rechts, oder: Lukas der Stümper

Stümper Lukas stammelt heute,

oh, man sollte ihn verdammen,

für die ganz gescheiten Leute

einen Schundroman zusammen.

 

Immer an der Oberfläche

schwatzt er über Sachsens Rechte –

doch die allergrößte Schwäche:

Lukas traf wohl nie auf echte.

 

Quer und halb wird dann gelesen.

Alle jubeln, alle nicken.

Das war es auch schon gewesen.

Lukas wird man Preise schicken.

 

Diese Posse wird verteidigt

von Philistern und Konsorten,

die dich bei Kritik beleidigt

gleich am rechten Rand verorten.

 

Und so schafft man einen Rahmen,

in dem Übel fortbestehen.

Lukas gibt man Rang und Namen.

Sachsen will man leiden sehen.


Der namenlose Ladenbesitzer

Inmitten einer weißen Wüste gab es einst ein Dorf, das in den besten Jahren an die 200 Einwohner aufwies. Die einzige Möglichkeit, zum Dorf zu gelangen oder das Dorf zu verlassen, bot der Zug. Er hielt zweimal die Woche quietschend an, ehe er nach kurzem Aufenthalt rußend davonschrammte. Die Führung sagte zu, die Gleise zu erneuern, einen neuen Bahnsteig zu errichten und sogar für mehr Verbindungen und preisweitere Fahrscheine zu sorgen. Das alles blieb ein Versprechen und so alterten Zug, Gleise und Bahnsteig, während die Fahrscheinpreise regelmäßig stiegen.

Mitten im Dorf gab es einen Laden, in dem man alles finden konnte, was man in der Eiswüste so brauchte: vor allem Zwiebeln, Speck und Wodka. Der Besitzer des Ladens war allen Dorfbewohnern bekannt, obwohl sich nie jemand an seinen Namen erinnerte. Die einen wollten seinen Namen, so schnell es ihnen möglich war, vergessen, die anderen konnten ihn nicht im Gedächtnis behalten, weil sie aus einem Überschwang aus Freude und Respekt ohnehin nie den Namen des Ladenbesitzers aussprachen, sondern ihn als Genossen, manche sogar als Freund bezeichneten.

Der Ladenbesitzer war gegenüber der Führung treu, ja treuer als die Mitglieder der Führung selbst. Er verkaufte nie etwas unter dem Ladentisch, machte seine Lebensmittelbestellungen immer korrekt, orderte nie zu viel und verkaufte zu angemessenen Preisen. Kam die Führung in sein Geschäft, hielt er stets ein bares Geschenk für sie bereit, obwohl er sich nie etwas zu Schulden kommen ließ. Wollte die Führung ein Fest für sich im Dorf feiern, erledigte der Ladenbesitzer alle Lebensmittellieferungen, half auch bei anderen Vorbereitungen und wusste immer nur ein gutes Wort über die Führung zu verlieren.

So kam es, dass die einen Dorfbewohner ihn für seine Linientreue achteten, zumal sie meist selbst ab einem bestimmten Punkt die geltenden Regeln übertraten, um beispielsweise einen Zugfahrschein zu ergattern oder an dringend benötigte Materialien für eine Reparatur des eigenen Hauses zu gelangen, denn auch wenn die Führung von baldigem Versorgungsnachschub sprach, traf er nie ein, sodass man erfinderisch werden musste, um das Nötigste zu erhalten. Die anderen Dorfbewohner hassten den Ladenbesitzer und sahen ihn nur als einen Verräter am eigenen Volk an, das beständig unter dem Joch der Führung zu leiden habe. Sie verachteten seine Linientreue und kauften bei ihm nur deswegen ein, weil er das einzige Geschäft im Dorf führte.

Selten verließ der Ladenbesitzer das Dorf. Geschah es jedoch, dann nur nach Aufforderung der Führung, die ihm jährlich einmal einen Verdienstorden für „seine wertvollen und immer auf den Fortschritt bedachten Taten“, so hieß es stets, in der weit entfernten Großstadt verlieh. Unter wertvollen Taten verstand die Führung nicht nur den Verkauf von Waren oder das Organisieren von Festen, sondern auch das Ohr ein wenig zu spitzen, wenn sich Kunden im Laden oder anderswo im Dorf unterhielten, oder das Auge zu schärfen, wenn der ein oder andere Dorfbewohner plötzlich hinter einem Haus verschwand. Wöchentlich holte sich die Führung Berichte beim Ladenbesitzer über vermeintliche Sonderbarkeiten im Dorf ab. Er notierte alles haargenau, was ihm ungewöhnlich erschien, und überreichte seine Berichte stets mit einer „kleinen Aufmerksamkeit“, so wie er es nannte. Hin und wieder verschwand ein Dorfbewohner aus unerklärlichen Ursachen, meist immer ein, zwei Tage, nachdem der Ladenbesitzer seinen neusten Bericht abgegeben hatte.

Eines Tages kam es zu Unruhen im ganzen Land, weil ein schrecklicher Skandal der Führung an die Öffentlichkeit gelangte. Um die Bevölkerung zu beruhigen, mussten Köpfe rollen. So entschloss sich die Führung, den Ladenbesitzer aufzusuchen. Sie erzählte ihm alles bis ins kleinste Detail, als wäre der Ladenbesitzer selbst ein hoher Funktionär innerhalb der Führung. Am Ende bat die Führung um Verständnis dafür, dass man den Ladenbesitzer nun für den Rest seines Lebens in ein Arbeitslager schaffen müsste, schließlich müssten Köpfe rollen. Der Ladenbesitzer verstand das alles und noch am selben Tag verließ er in Begleitung der Führung das Dorf. Die einen, die ihn einst hassten, jubilierten, weil sie plötzlich einen Gleichgesinnten im Ladenbesitzer erkannten, die anderen, die ihn einst liebten, weinten aus blanker Enttäuschung, als er in den Zug stieg. Im ganzen Land wurde bekannt gemacht, dass der Ladenbesitzer Ursache des Skandals innerhalb der Führung war und dafür zur Rechenschaft gezogen wird. Dem Volk war das genehm und es beruhigte sich wieder.

Seine letzten Jahre verbrachte der Ladenbesitzer damit, Erze unter den unwürdigsten Bedingungen abzubauen. Sein Körper hielt die Strapazen nicht aus, sodass er bald auf dem Sterbebett lag. Kurz vor seinem Tod, trat die Führung heran und versicherte ihm, dass er ein glückliches Leben hatte und seine Dienste für das ganze Volk ewig in Erinnerung bleiben werden. Der Ladenbesitzer nickte und bedankte sich treu, ehe verstarb.